Mitleid
haben kann man sicher mit einigen Literaturfiguren. Schließlich erzählen viele
Bücher tragische Schicksale, die beim Leser vermutlich des Öfteren Mitleid mit
den Opfern auslösen. Als ich mich für eine Figur entscheiden musste, fiel mir
auf, dass ich besonders viel Mitleid mit denjenigen Protagonisten habe, die
sich selbst in eine schwierige Situation gebracht haben. Denn ich glaube, einer
der schlimmsten Gedanken bei einem Unglück ist, wenn man selbst dafür
verantwortlich ist.
So
ist es auch bei David Kern, dem Helden aus Martin Suters „Lila, Lila“. Am Ende
des Buches hat er seine große Liebe verloren und muss erkennen, dass er das
selbst verschuldet hat. Er hat sich durch das Manuskript, das er als sein
eigenes ausgegeben hat, in eine Sache hineinmanövriert, die außer Kontrolle
geriet. Natürlich konnte er das zu Beginn nicht wissen. Aber er wusste, dass er
einen Betrug begeht. Und konnte der Versuchung trotzdem nicht wiederstehen. Am
Ende bekommt er die Quittung, gnadenlos.
Zusätzlich
zum Verlust seiner großen Liebe muss David erkennen, dass es eventuell nicht so
weit hätte kommen müssen. Dass er angelogen wurde, und auch deshalb das Ganze
aus dem Ruder lief. Jacky, der ihn unter Druck setzte, hatte bei weitem nicht
so viel gegen ihn in der Hand wie er dachte. Er hätte sich also vermutlich leichter
von ihm lösen können als gedacht. Und seine Freundin dadurch vielleicht auch
nicht so sehr verärgert.
Solche
Gedankenspiele bringen David und auch keinem realen Menschen im Nachhinein
irgendetwas. Trotzdem denkt man sie. Und gerade das erregt mein Mitleid. Weil
der Gedanke, dass man etwas nicht nur falsch gemacht hat, sondern vielleicht
sogar hätte ändern können, bestimmt das Unglück nicht verringert, sondern
vermutlich vergrößert.
Mein
Kandidat für den Posten eines bemitleidenswerten Bücherhelden: David Kern. Und
Deiner?
Ich
bin mir sicher, dass man während des Lesens einer Geschichte immer wieder die
eine oder andere Frage an die verschiedensten Protagonisten auf der Zunge hat.
Warum hast du das getan oder nicht getan? Hat es sich für dich gelohnt? Was
hast du nach Ende des Romans so vor? Und am häufigsten wahrscheinlich: Warum
hast du nichts gesagt?
Wenn
man sich aber so ganz ohne momentane Lektüre überlegt, wen man was gerne fragen
würde, fällt einem erst einmal nichts ein. Mir zumindest. Da muss man sich
schon das eine oder andere Buch recht detailliert wieder ins Gedächtnis rufen,
um diese Frage beantworten zu können. Das habe ich versucht.
Beim
Überlegen vor dem Bücherregal blieb mein Blick an den Büchern von Ingrid Noll
hängen, die ich besonders mag. Ihre Helden finde ich deshalb so spannend, weil ihre,
ja oft sehr rabiate, Handlungsweise so dargestellt wird, dass ich sie
trotzdem nachvollziehen kann. Meist geschehen Nolls Morde aus einer Enttäuschung, einem
Frust oder dem Gefühl des Zurückgesetztseins heraus - das ist für den Leser Motiv genug.
„Warum
hast du das getan?“, wäre demnach keine Frage, die man Nolls Heldinnen stellen
muss. Wenn man nach der Lektüre der Bücher etwas weiß, dann ist es die Antwort
auf diese Frage. Rosemarie Hirte zum Beispiel, die Protagonistin des ersten
Krimis „Der Hahn ist tot“, will sich die späte Chance auf Glück in ihrem von
Verzicht geprägten Leben nicht nehmen lassen und geht dafür über Leichen. Ein
eindeutiger Grund.
Am
Ende des Romans jedoch, wenn die Ereignisse sich überschlagen und nicht
unbedingt nur positives gebracht haben, würde ich sie gerne fragen: „Und?
Bereust du es? War es das wert? Bist du jetzt glücklicher?“ Was sie antworten
würde, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht hat es ihr tatsächlich Genugtuung
verschafft, dass nun nicht nur sie, sondern auch andere gelitten haben.
Vielleicht hat es ihr geholfen, dass sie die Dinge in die Hand genommen hat,
auch wenn sie sie nicht zum Guten wenden konnte.
Ob
das eine sympathische und verständliche Antwort auf die Frage wäre, sei
dahingestellt. Aber es ist in jedem Fall eine Frage, die man sich auch im
eigenen Leben immer mal wieder stellen kann. Auch wenn man nicht gerade einen
Mord verübt hat.
Meine
Kandidatin für den Posten eines zu befragenden Bücherhelden: Rosemarie Hirte.
Und Deiner?
Figuren,
mit denen man nie tauschen würde, gibt es viele. Alle, deren Schicksal tödlich
endet, zum Beispiel. Oder die, die krank sind oder es werden. Auch den Platz
derer, die unglücklich sind, würde ich nicht gerne einnehmen wollen. Und solche
gibt es wie Sand am Meer.
Aber
gibt es auch glückliche Protagonisten, mit denen man trotzdem nicht tauschen
würde? Ich für meinen Teil habe, glaube ich, einen gefunden: Jan, die Hauptperson
aus Jan Weilers „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“. Damit Ihr mich nicht falsch
versteht: Das Buch war sehr amüsant zu lesen. Ich habe es keine Sekunde bereut,
es gekauft zu haben. Aber Lesen ist etwas völlig anderes als Erleben.
Natürlich
sind die Geschichten, die Jan mit seiner angeheirateten italienischen Sippe
passieren, sehr witzig. Aber wahrscheinlich nur, wenn man sie nicht selbst
aushalten muss. Der Schwiegervater Antonio ist sehr unterhaltsam, aber
vermutlich auch sehr anstrengend.
Ich
könnte mir vorstellen, dass ich mit einer solchen Familie, in die ich noch
nicht mal hineingeboren bin, vielleicht nicht so gut klargekommen wäre. Zwar
würde ich mich durchaus als Familienmensch bezeichnen, aber ein italienischer
Clan mit seinen Ecken und Kanten und seiner subtilen Übergriffigkeit wäre
wahrscheinlich sogar mir zuviel.
Dieser
Familie muss man sich mit Haut und Haaren ergeben, um sie wirklich ertragen zu
können. Und das würde mir doch sehr schwer fallen, glaube ich. Dabei sehe ich
jetzt mal davon ab, dass Jan ein Mann ist und ich eine Frau bin. Das würde
vermutlich im Umgang mit den lieben Verwandten kaum einen Unterschied machen.
Außer, dass ich mich eventuell noch weniger durchsetzen könnte. Ein Grund mehr,
nicht zu tauschen…
Mein
Kandidat für den Posten eines Bücherhelden, mit dem ich nicht tauschen würde: Jan.
Und Deiner?
Ja,
das ist ein schöner Gedanke, mit jemandem einfach tauschen zu können. Und am
allerschönsten ist der Gedanke bei so manchen Literaturfiguren, weil die oft
nicht den Gesetzen der Natur unterliegen. Sie können hexen, zaubern, fliegen,
sich verwandeln, unsichtbar machen oder ähnliches. Viele können natürlich auch
nur das, was wir auch können oder könnten, aber mit denen würden wir vermutlich
auch nicht tauschen.
Einen
Protagonisten zu finden, mit dem man gerne tauschen würde, ist dann aber doch
nicht so leicht wie gedacht. Es gibt da nämlich oft etwas, das einem dann
wieder nicht gefällt, wie zum Beispiel die Welt oder die Umstände, in denen sie
leben. Trotzdem wage ich es jetzt einmal, einen Gedanken zu äußern. Auch wenn
ich froh bin, dass ich danach nicht wirklich tauschen muss.
Wie
wäre es denn zum Beispiel, mit dem Sams aus Paul Maars „Eine Woche voller
Samstage“ zu tauschen? Sicher wünscht sich das so manches Kind. Aber sehen wir die
Angelegenheit doch mal aus der Erwachsenenperspektive. Das Sams ist nicht
besonders schön, sehr frech und direkt, kann vieles, was ein normaler Mensch
nicht kann und es hat Wunschpunkte.
Einmal
nach Herzenslust direkt sein, ohne an die Folgen zu denken, wäre nicht
schlecht. Das Sams muss nicht jeden Tag arbeiten und es wird auch nicht mit den
üblichen Maßstäben gemessen. Schließlich ist es ja das Sams. Was das Aussehen
betrifft, entspricht es zum Beispiel nicht meinen Idealvorstellungen, aber ich
vermute, dass einem das als Sams egal ist. Und das wäre doch auch mal eine
nette Alternative.
Das
Sams kann mit seinen Wunschpunkten Menschen glücklich machen. Und was auch
nicht zu unterschätzen ist, es kann alles essen, was ihm in die Hände kommt.
Verhungern wird es also vermutlich nicht. Eventuell würde ich allerdings mit
dem Sams nur für ein paar Tage tauschen, aber vielleicht doch nicht das ganze
Leben. Für einige Zeit aber wäre es bestimmt ganz lustig, mal ein Sams zu sein.
Mein
Kandidat für den Posten eines Bücherhelden, mit dem ich gerne tauschen würde: Das
Sams. Und Deiner?