Freitag, 16. August 2013

Von mir und meinen Mitbewohnern

Als Schriftstellerin lebe ich mit meinen Romanfiguren zusammen. Zumindest für eine gewisse Zeit. Solange nämlich, wie ich brauche, um einen Charakter zu entwerfen, seine Geschichte zu finden, gegebenenfalls wieder zu verwerfen, neu zu finden, zu entwickeln und schließlich zu erzählen. Das können Tage sein. Oder Monate. Manchmal auch Jahre. Wie in einer Wohngemeinschaft. Und die kann einen nerven oder auch bereichern. Wie im richtigen Leben...
Nach Beendigung eines Romans ziehen meistens einige Mitbewohner aus der WG aus. Andere ziehen sofort ein, falls man schon ein neues Projekt plant. Und manchmal wird man ein paar Mitbewohner auch gar nicht wieder los. Dann muss man wohl oder übel eine Fortsetzung schreiben. Hie und da verändert sich eine Figur im Laufe ihres „Mitwohnens“ erheblich. Denn die Verhaltensänderung, die man sich in einer echten WG von seinen Mitbewohnern manchmal vergeblich wünscht, ist von frei erfundenen Romanfiguren relativ leicht zu bekommen. Zumindest leichter als im wirklichen Leben.
Eine Romanfigur läßt sich (im Entwicklungsstadium) immer wieder nach den eigenen Vorstellungen verändern. Ihre Reaktionen auf Ereignisse ihres Lebens lassen sich bearbeiten, verbessern, ja sogar rückgängig machen. Man muss sich also in der fiktionalen Wohngemeinschaft nicht endlos mit den Unzulänglichkeiten seiner Mitbewohner herumschlagen. Nein, man ändert sie einfach. Keine unabgespülten Geschirrberge, kein ungeputztes Klo – es sei denn, der Autor will das so. Und selbst dann kostet es ihn ja nur eine einzige Zeile, den Dreck wieder wegzumachen. Oder wegmachen zu lassen.
Bevor der Computer uns Schriftstellern das Leben erleichterte, lag der Dreck dann noch eine Zeitlang im Papierkorb. Oder verschwand unter einer Schicht TippEx. War aber immer noch irgendwie da. Das konnte sicher unangenehm sein... wenn den Schriftsteller seine gekündigten Mitbewohner in Form von Unmengen zerknüllten Papiers oder langen durchgestrichenen Textpassagen weiterhin vorwurfsvoll anblickten. Heute wird unerbittlich gelöscht und sofort wieder abgespeichert. Und fertig ist der neue WG-Nachbar. Wenn das doch in der Realität auch so einfach wäre!
Die WG des Schriftstellers mit seinen Geschöpfen ist also eine Art Doppelleben, in dessen Zweitdasein der Autor alles so erfinden kann wie er es gerne hätte oder vielleicht auch eben nicht. Manche Romanautoren finden ja durchaus Gefallen an der Beschreibung eines Horrorszenarios, das weit über ungespültes Geschirr und Urinstein hinausgeht. Stephen King müsste demnach äußerst schlechte Erfahrungen mit seinen diversen fiktionalen Mitbewohnern gemacht haben.
Manchmal besuchen mich meine Protagonisten noch lange nach ihrem Auszug immer wieder. Dann nämlich, wenn mir die Leser nach Erscheinen des Romans ein Feedback darüber geben, wie gut oder schlecht so manche Figur gelungen ist. Das kann ein erhebendes oder auch niederschmetterndes Gefühl sein. In jedem Fall aber kann man dabei einiges lernen. Denn nach einem Auszug ist meistens auch vor einem Einzug. Und der nächste Mitbewohner kommt bestimmt...

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