Dienstag, 22. Oktober 2013

Vom Schöpfer und den Geschöpfen

Ebenso wie in einer realen WG können auch in der fikionalen Wohngemeinschaft die Mitbewohner voneinander profitieren. Während im richtigen Leben der eine diese und der andere jene Fähigkeiten einbringt, handelt es sich bei der Arbeit an einem Roman nicht um das Zusammenbauen eines Schranks oder das Backen eines Kuchens. Nein, hier finden die Wechselwirkungen hauptsächlich zwischen dem Autor und den von ihm erfundenen Figuren statt und zwar interessanterweise in beide Richtungen.
Als Schriftstellerin kann ich von meinen Protagonisten etwas lernen, während sie ebenfalls von meinem Wissen und meiner Lebenserfahrung profitieren. Denn das, was ich an Erlebnissen und Erkenntnissen hinter mir habe, fließt selbstverständlich in das Konzept einer Figur mit ein. Und was ich nicht aus meiner eigenen Erfahrung beisteuern kann, erarbeite ich mir in Form von ausführlicher Recherche. Alles für meine Figuren.
Umgekehrt ermöglichen die Protagonisten mir, von den Erfahrungen, die ich ihnen zuschreibe, zu profitieren, ohne dass ich sie selbst machen muss. Das Risiko der einen oder anderen Entscheidung, die ich die Figuren treffen lasse, existiert ja zunächst nur auf dem Papier bzw. in der Datei. Und das ist ein recht überschaubares Risiko, denn es läßt sich im Mißerfolgsfall einfach wieder löschen.
Meine Romanfiguren ermöglichen mir also eine Art Versuchsaufbau des Lebens, mit dem ich experimentieren kann, ohne dass gleich alles in die Luft fliegt. Und wenn es schief geht, versuchen wir es halt noch einmal in einer anderen Zusammensetzung. Das ist ein enormer Vorteil des fiktionalen Schreibens. Wer hat sonst schon in seinem Leben die Möglichkeit, alles erdenkliche einfach auszuprobieren, ohne zunächst an die Folgen denken zu müssen? Was ich von meinen Mitbewohnern bekomme, kann also mein Leben wesentlich bereichern. Hoffentlich profitieren sie von mir als ihrer Schöpferin in einem ähnlichen Maße...

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