Sicher
gibt es so einige Protagonisten, die im Laufe einer Geschichte eine negative
Entwicklung durchlaufen. Eventuell sind es öfter Neben- als Hauptfiguren, weil
sich bei den zentralen Figuren eine positive Entwicklung einfach besser macht.
Vielleicht gibt es aber auch solche und solche Werdegänge gleichermaßen. Egal.
Hier soll es zunächst einmal um eine besonders negative Metamorphose einer Figur gehen.
Der
Gymnasiallehrer Raat aus Heinrich Manns „Professor Unrat“ ist auch zu Beginn
des Romans beileibe kein sympathischer Mensch. Er ist ein besonders strenger
Lehrer, hat sich mit seinem Sohn überworfen und sieht die Schüler als seine
Feinde an. Trotzdem hat er ein gewisses Ansehen und wird im Ort als Professor
geschätzt und gefürchtet.
Durch
den Kontakt mit der Tänzerin Rosa Fröhlich aus dem Vergnügungslokal „Der blaue
Engel“ verändert sich Manns Protagonist total, dreht sich sozusagen um
hundertachtzig Grad. Zunächst macht er sich wiederholt lächerlich, weil ihn die
gute Dame nahezu mühelos dazu bringt, dass er immer wieder gegen seine hehren
Prinzipien verstößt. Die Meinung der anderen ist ihm dabei auf einmal gar nicht
mehr wichtig, wodurch ihm vielleicht ein wenig das Korrektiv fehlt.
Natürlich
schmeichelt ihm das scheinbare Interesse der attraktiven Tänzerin, auf die auch
seine Schüler ganz scharf sind. Doch übertreibt er es dabei so sehr, dass ihm
immer weniger bewusst ist, wie sie ihn manipuliert. Seine negative Entwicklung
ist also von außen herbeigeführt, was aber nichts daran ändert, dass er sie
zulässt beziehungsweise forciert.
Das
führt so weit, dass er aus dem Schuldienst entlassen wird, der eigentlich sein
Leben ausgemacht hat. Er heiratet Rosa, die seinen finanziellen Ruin herbeiführt
und ihn letztendlich vor allen unmöglich macht. Schließlich wird er aus
Eifersucht straffällig und verhaftet. Tiefer kann ein ehemals geachteter Mann
nicht sinken, oder?
Mein
Kandidat für den Posten eines sich negativ entwickelnden Bücherhelden: Professor
Raat. Und Deiner?
Das
ist ja das Schöne an fiktionalen Figuren. Mit ihnen kann man Ereignisse
durchspielen, die in der Realität nie möglich wären. Das kann besonders der
Autor, aber das kann auch jeder Leser. Wir können, wie in diesem Blog, immer
darüber nachdenken, was mit den Protagonisten passieren würde, wenn sie dies
oder jenes nicht oder doch getan oder erlebt hätten.
Als
ich anfing, mir über die oben gestellte Frage Gedanken zu machen, ging mir eine
Idee nicht mehr aus dem Kopf: Was wäre gewesen, wenn sich Astrid Lindgrens
Pippi Langstrumpf und Gustaves Flauberts Madame Bovary getroffen hätten?
Zunächst habe ich den Gedanken wieder verworfen, weil er mir dann doch zu
absurd erschien. Aber letztendlich dachte ich mir: Warum nicht einfach mal eine
ziemlich abwegige Variante gedanklich durchspielen? Bei Romanfiguren geht das ja recht einfach.
Nehmen
wir einmal an, Pippi Langstrumpf und Emma Bovary hätten sich tatsächlich
getroffen und keine von beiden hätte sofort das Weite gesucht, weil ihr das
Ganze zu blöd war. Nehmen wir einmal an, die beiden hätten ein längeres
Gespräch geführt und sich auch zugehört.
Vermutlich
hätte Flauberts Emma von ihrem eintönigen Leben erzählt, von ihrem langweiligen
Mann und den Entbehrungen, die sie als unzumutbar empfand. Da Lindgrens Pippi
weder gesellschaftliche Konventionen noch die üblichen Verhaltensweisen noch
die Meinung der anderen interessiert, hätte sie ihr eventuell geraten, das zu
ändern und einfach mal etwas Verrücktes zu machen.
Vielleicht
hätte sie ihr vorgeschlagen, ganz spontan einen Ausflug zu machen, einfach ein
Fest zu feiern, sich ganz ausgefallen zu kleiden oder etwas Neues zu erfinden.
Vielleicht hätte sie ihr auch geraten, allein in eine andere Stadt zu ziehen
oder mit einem Segelboot einfach los zu segeln.
Was
Emma dazu gesagt hätte, kann ich auch nur vermuten. Eventuell hätte sie sie
einfach sitzen lassen und wäre in ihre Depression zurückgekehrt. Vielleicht
hätte sie sich aber auch anstecken lassen von der Begeisterung für das
Alltägliche und das, was man daraus machen kann. Vielleicht hätte sie
angefangen, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten sie hat und haben
könnte. Und vielleicht hätte sie dann etwas geändert.
Natürlich
hätte sie Pippi dafür rechtzeitig treffen müssen. Gegen Ende von Flauberts
Roman wäre es vermutlich zu spät gewesen. Aber wenn es so in der Mitte passiert
wäre, hätte es vielleicht geklappt. Und eventuell würde sie dann, rein
fiktional natürlich, noch leben.
Meine
Kandidaten für die Posten der Bücherhelden, die sich treffen sollten: Pippi
Langstrumpf und Emma Bovary. Und Deine?